Der Soziologe Stefan Bischoff erhebt im Rahmen der Studie „Engagementförderung in Ostdeutschland“ Zahlen zu Engagement fördernden Infrastruktureinrichtungen. Im Interview erklärt er, wie sich die Zahl der Einrichtungen in den letzten Jahren verändert hat und wie sich die ostdeutschen Länder unterscheiden.
Stiftung Bürger für Bürger: Herr Bischoff, Sie waren für den Generali Engagementatlas 2015 mitverantwortlich, der erstmals empirische Daten zu Anzahl, Profil, Ausstattung und Wirkung von Engagement unterstützenden Einrichtungen in Deutschland lieferte. Inwiefern knüpft Ihre Arbeit an der Studie „Engagementförderung in Ostdeutschland“ für die Stiftung Bürger für Bürger in Kooperation mit der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt daran an?
Bischoff: Für den Generali Engagementatlas 2015 (GEA 2015) wurde im Jahr 2013 unter Nutzung webbasierter Datenbanken und Archive sowie auf der Basis ergänzender Recherchen bei Dachverbänden, Netzwerken und Arbeitsgemeinschaften eine umfassende Bestandsanalyse Engagement unterstützender Einrichtungen in Städten, Gemeinden und Kreisen in Deutschland durchgeführt. Rund 3.400 Engagement unterstützende Einrichtungen wurden damals bundesweit gezählt, darunter 663 Einrichtungen in den ostdeutschen Bundesländern. Eine differenzierte und vergleichende Auswertung der Daten nach Ost- und Westdeutschland lag damals nicht im Fokus der Berichterstattung. Die Studie „Engagementförderung in Ostdeutschland“ eröffnete in der ersten Projektphase 2020 gleich zwei Möglichkeiten. Erstens konnten die GEA 2015-Daten differenziert und vergleichend für Ost- und Westdeutschland ausgewertet werden. Zweitens erfolgte eine aktualisierte Fortschreibung und Ergänzung der Einrichtungsdaten für Ostdeutschland.
Stiftung Bürger für Bürger: Was sind die größten Unterschiede der im Rahmen der Studie 2020 erhobenen Zahlen im Vergleich zu den Zahlen von 2013 im Generali Engagementatlas?
Bischoff: Zunächst ist bemerkenswert, dass in den vergangenen sieben Jahren die Zahl Engagement unterstützender Einrichtungen in Ostdeutschland um rund 8% auf 717 angewachsen ist. Die bedeutsamste Zunahme und Verbreitung in Städten und Landkreisen ist bei Soziokulturellen Zentren zu verzeichnen, die ihren Anteil an allen Engagement unterstützenden Einrichtungen auf 33% gesteigert haben. Wurden damals (2013) 184 soziokulturelle Zentren gezählt, sind es heute (2020) 238. Im Zeitraum relativ stabil geblieben ist die Zahl der Mehrgenerationenhäuser, Selbsthilfekontaktstellen, Mütterzentren und kommunalen Stabsstellen. Eine deutliche Zunahme ist hingegen bei den Bürgerstiftungen zu vermerken, die heute an 43 Standorten vertreten sind. Abgenommen hat die Zahl der Freiwilligenagenturen und Seniorenbüros in fast allen ostdeutschen Bundesländern. So sank die Zahl der Freiwilligenagenturen von 84 auf jetzt 71 Einrichtungen. Lediglich in Mecklenburg-Vorpommern ist eine Zunahme festzustellen. Die Zahl der Seniorenbüros ging von 69 auf 56 zurück. Besonders betroffen waren Städte und Kreise in Thüringen.
Stiftung Bürger für Bürger: An welchen Stellen unterscheiden sich hier die ostdeutschen Bundesländer am deutlichsten voneinander?
Bischoff: Hinsichtlich der Zahl der Einrichtungen in ihrer Verbreitung in den Bundesländern werden deutliche Unterschiede sichtbar. Thüringen, das mit und 2 Mio. Einwohner:innen nur etwa halb so groß wie Sachsen mit rund 4 Mio. Einwohner:innen ist, nimmt im Vergleich der fünf Bundesländer bei der Anzahl der Einrichtungen eine Spitzenstellung ein. Dies trifft auch auf die Versorgungsdichte gemessen an der Zahl der Einwohner pro Einrichtung und der Zahl der Einrichtungen pro 100.000 Einwohnern (im Landesdurchschnitt 6,57) zu. An zweiter Stelle folgt bezüglich der Zahl der Einrichtungen das Bundesland Sachsen. Im Hinblick auf die Versorgungsdichte landet Sachsen jedoch mit unterdurchschnittlichen 4,57 Einrichtungen pro 100.00 Einwohnern nur knapp vor Sachsen-Anhalt auf dem vierten Platz. Brandenburg liegt bei der Anzahl der Einrichtungen und der Versorgungsdichte auf dem dritten Platz. Dahinter folgt Mecklenburg-Vorpommern, das in den letzten sieben Jahren die deutlichste Zunahme der Anzahl der Einrichtungen zu verzeichnen hat. Das Schlusslicht unter den Bundesländern hinsichtlich der Zahl der Einrichtungen sowie hinsichtlich der Versorgungsdichte mit Infrastruktureinrichtungen der Engagementförderung bildet das Bundesland Sachsen-Anhalt. Es weist mit 96 Einrichtungen die geringste Zahl auf und rangiert auch bei der Anzahl der Einrichtungen pro 100.000 Einwohnern mit 4,56 weit unter dem Durchschnitt für die ostdeutschen Bundesländer.
Stiftung Bürger für Bürger: Worin liegt Ihr Hauptaugenmerk in der zweiten Analysephase? Wo liegen blinde Flecken?
Bischoff: In der zweiten Projektphase werden basierend auf einem mehrstufigen Infrastrukturraster länderspezifische Fortschreibungen und Ergänzungen vorgenommen. Der Fokus liegt auf bislang nicht in den Blick genommenen lokalen Koordinierungsstellen und Ansprechpartner:innen sowie Stabsstellen für die Förderung bürgerschaftlichen Engagements in Städten und Landkreisen. Ferner richtet sich der Blick auf lokale, regionale und landesweite Zusammenschlüsse, Netzwerke und Arbeitsgemeinschaften der Engagementförderung. Weiterhin von Interesse sind Stabsstellen in Landesregierungen, aber auch Landesehrenamtsagenturen und landesspezifische Ehrenamtsportale im Internet. Nicht zuletzt sollen verbandsinterne Koordinierungs- und Stabsstellen für Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement ermittelt werden.
Stiftung Bürger für Bürger: In der aktuellen Analysephase geht es auch darum, Handlungsempfehlungen zu formulieren. Was sind aus Ihrer Perspektive wirksame Instrumente zur Engagementförderung?
Bischoff: Bezogen auf eine nachhaltige Förderung der Engagementinfrastrukturen schließe ich mich Empfehlungen an, die vor fast zwanzig Jahren von der damaligen Enquete-Kommission zur Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements (2002) entwickelt wurden und in ähnlicher Weise auch Eingang in die Förderplädoyers des Generali Engagementatlas 2015 gefunden haben.
Danach wird übereinstimmend eine Abkehr von kurzfristigen Modellfinanzierungen gefordert. Eine effektive engagementfördernde Infrastruktur sollte sich auf die konkreten Erfordernisse sowie strukturellen Rahmenbedingungen in den jeweiligen Kommunen beziehen. Einheitskonzepte, nach denen in allen bundesdeutschen Kommunen in gleicher Weise eine erfolgreiche Politik der Engagementförderung betrieben werden könnte, sind kaum hilfreich. Wichtig sind dabei Möglichkeiten der kommunalen Entscheidungsfindung und nicht Modelle, die „von oben übergestülpt“ werden. Wenn Modellprogramme vom Bund oder von einzelnen Ländern aufgelegt werden, bedarf es einer föderal abgestimmten und nachhaltigen Förderstrategie. Es gilt, wie im Generali Engagementatlas 2015 formuliert, „das große Ganze im Blick zu behalten und auf einen sinnvollen Einrichtungsmix vor Ort zu setzen. Grundlage für neue Förderstrukturen sind u.a. die haushaltsrechtliche Definition von Engagementförderung als kommunale Pflichtaufgabe sowie die Aufhebung des Kooperationsverbots zwischen Bund und Ländern.“
Stiftung Bürger für Bürger: Vielen Dank für das Interview!