Dr. Thomas Gensicke ist Teil des Forschungsteams, das mit der Stiftung Bürger für Bürger in Kooperation mit der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt die Studie „Engagementförderung in Ostdeutschland“ erarbeitet. Im Interview berichtet er von seiner Forschung zu den Ländern Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern und erklärt was Engagement im ländlichen Raum auszeichnet.
Stiftung Bürger für Bürger: Herr Dr. Gensicke, Sie selbst stammen aus Magdeburg, Sachsen-Anhalt, leben aber schon 30 Jahre in Westdeutschland. Wie kommen Sie zum Thema Engagementförderung in Ostdeutschland und welche biografischen Bezugspunkte gibt es?
Gensicke: Was Ostdeutschland betrifft, war ich von Anfang an dabei, man hat mich ja als jungen Absolventen auch deswegen nach Speyer in den tiefsten Westen geholt. Das war weit weg, mehr mental als geografisch. Als ich 2001 nach Bayern ging, war es eine Rückannäherung an den Osten, besonders, wenn ich mal in Franken war. In Speyer habe ich bei Helmut Klages den Freiwilligensurvey mitentwickelt und gleich die erste Auswertung für den Osten gemacht. Bei Infratest in München übernahm ich dessen Leitung. Dann kamen auch einzelne Ostländer dazu, ich führte Studien für Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen durch, teils mehrfach.
Stiftung Bürger für Bürger: Im Rahmen der Studie „Engagemementförderung in Ostdeutschland“ der Stiftung Bürger für Bürger in Kooperation mit der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt (DSEE) erstellen Sie Länderportraits für Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern. Beide Länder besitzen eine Ehrenamtsstiftung. Was haben die beiden „Stiftungsländer“ gemeinsam? Wo unterscheiden sie sich bei der Engagementförderung?
Gensicke: Die Thüringer Ehrenamtsstiftung (TES) ist mit bald 19 Jahren schon viel länger im „Geschäft“. Die Ehrenamtsstiftung MV hat viel von Thüringen gelernt. Frau Manke (Geschäftsführerin der TES) hat gerne Aufbauhilfe geleistet. Die Tätigkeit ist den besonderen Bedingungen und Traditionen angepasst, Thüringen ist zwar auch ländlich, aber kompakter strukturiert und liegt mittiger, MV hat Mühe, seine große Fläche zu bedienen. Das hat schon früher andere Stile der Organisation hervorgebracht. Die TES verankert sich stärker auf kommunaler Ebene, die Ehrenamtsstiftung MV verkoppelt sich direkter mit den Vereinen vor Ort. In MV sähe ich gerne die kommunale Ebene in die Engagementförderung mehr einbezogen.
Stiftung Bürger für Bürger: Wie gehen Sie methodisch in der zweiten Analysephase vor?
Gensicke: Das Vorgehen ist in allen Ländern ähnlich: Dokumentenanalyse, zentrale Workshops pro Bundesland mit Expertinnen und Experten und vertiefende Interviews. Mir geht es besonders um die Verkopplung von Strukturen, die von der Basis her aufwachsen, mit solchen, die von oben her ihre Fühler nach unten ausstrecken. Ich möchte, dass das auf Augenhöhe geschieht, das stärkt die Demokratie.
Stiftung Bürger für Bürger: Seit 2020 führen Sie für die Thüringer Ehrenamtsstiftung das Projekt „Ehrenamtliches Engagement im ländlichen Raum Ostdeutschlands am Beispiel Thüringens“ durch. Wie ergänzt sich Ihre Arbeit in Thüringen mit der Arbeit an der Studie für die Stiftung Bürger für Bürger und die DSEE?
Gensicke: Das Projekt geht ja direkt in das von Bürger für Bürger ein, vieles kann dabei übernommen werden, manches ist einfacher, weil eine ganze Reihe an wichtigen Personen schon gut bekannt ist. So konnte der Expert:innen-Workshop sehr gut besetzt werden. Das wird, ausgehend von starken Thesen, die Thüringer Ideenbörse anschieben. Schon aus der Erfahrung dieses Projektes weiß ich, was die Leute an guten Ideen zu den Infrastrukturen der Förderung des Engagements einzubringen haben, sie kennen sich richtig aus. Und dabei unterstützt mich die TES aktiv.
Stiftung Bürger für Bürger: Was zeichnet denn Engagement im ländlichen Raum aus – speziell in Ostdeutschland?
Gensicke: Ich bin von der Herkunft her Schwermaschinenbau-Städter. Im ländlichen Raum – ich lebte zehn Jahre in der Rheinpfalz – erscheinen mir die Verhältnisse zwischen Ost und West ähnlicher. Die Metropolen entfernen sich hingegen in Ost und West immer stärker von der ländlichen Fläche, aber der Osten ist viel weniger von diesen geprägt. Auf dem Land steht und fällt das soziale Leben mit den Vereinen und Initiativen, während in den Städten mehr soziale und kulturelle Angebote vorhanden sind. Thüringen ist aber noch etwas anderes – schon als Kind und Jugendlicher für mich ein Ort, wo die Welt noch in Ordnung war. Das fand ich im Projekt der TES wieder: Hier blüht die Kirmes und Heimatkultur ist sehr wichtig. Ich konnte erleben, wie sich der Ministerpräsident Bodo Ramelow aufgrund seiner hessischen Erfahrungen in diese Welt einfühlen kann, z.B. auch in die der Carneval- und Kirchbauvereine. Die wichtige soziale Rolle der Vereine auf dem Lande, auch über ihre Themen hinaus, unterstützt er, z.B. durch das Programm „Aktiv vor Ort“ der TES. Das kommt an der Basis gut an.
Stiftung Bürger für Bürger: Und vor welchen Herausforderungen stehen die Engagierten vor Ort?
Gensicke: Sie sind mit immer mehr Auflagen der Behörden konfrontiert. Sie kommen von Brüssel über Berlin bis Erfurt und machen den Vereinen in einer Lage, in der junge Leute abwandern und des demografischen Wandels das Leben noch schwerer. Sie brauchen einen Schutzschild durch ihre Kommunen, die die Vereine beraten und vor allem praktisch davon entlasten. Durch die Covid-19-Krise ist das noch nötiger geworden. Diese Unterstützung stärkt auch die Demokratie vor Ort. Es geht aber auch um die simple Frage: Wie komme ich von A nach B, die sich gerade für Jugendliche auf dem Lande stellt. Eine charakteristische Beschreibung war: Ich bin mit anderen Jugendlichen am „Treff“ Bushaltestelle aufgewachsen, aber da kam selten ein Bus vorbei.
Stiftung Bürger für Bürger: Was sind aus Ihrer Perspektive die wichtigsten Handlungsempfehlungen und Instrumente für eine effektive Engagementförderung?
Gensicke: Anknüpfen an die Erfahrungen und Ideen vor Ort, Respekt vor dem, was die Menschen vor Ort auf die Beine stellen, Rückbesinnung auf das, was die Demokratie ausmacht, dass der Staat und die Behörden für den Souverän da sind, die Menschen, und nicht umgekehrt!
Vielen Dank für das Interview!