Am 28. September veranstaltete die Stiftung Bürger für Bürger gemeinsam mit der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt, der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, der ZiviZ gGmbH und dem Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement digital das wissenschaftliche Kolloquium „Zivilgesellschaft in Ostdeutschland stärken – Perspektiven der Engagement- und Demokratieförderung“.
Über 20 Teilnehmende aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft diskutierten über die politische Rolle der Zivilgesellschaft, aktuelle Befunde zur Polarisierung und über Zwischenergebnisse der Studie „Engagementförderung in Ostdeutschland“. Im Interview berichtet der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Roland Roth, Kuratoriumsmitglied der Stiftung Bürger für Bürger, von den wichtigsten Ergebnissen des wissenschaftlichen Austauschs.
Stiftung Bürger für Bürger: Lieber Roland Roth, welche Erkenntnisse konnten aus dem Kolloquium gezogen werden?
Das Thema enthält, darin waren sich die Beteiligten einig, eine Reihe von Herausforderungen. Dies beginnt bei der Engagementpolitik der Bundesländer, die auch in Ostdeutschland unterschiedliche Wege gehen (Stiftungsmodelle, Landesnetzwerke, Engagementstrategien, zivilgesellschaftliche Zusammenschlüsse etc.). Es lohnt, diese verschiedenen Wege genauer zu betrachten und ihre Wirkungen zu bilanzieren, um daraus zu lernen. Eine zweite Ebene bilden regionale und lokale Vernetzungen, die besonders für ländliche Räume zentral sind. Wie können solche Kooperationen gelingen, Konkurrenzen überwunden und Ressourcen mobilisiert werden. Schließlich ist die Ebene der Verbände, Vereine und Initiativen in den Blick zu nehmen. Sie bilden den „Zement der Zivilgesellschaft“, aber sie unterscheiden sich doch sehr in ihrer Offenheit für die lokale Bevölkerung und ihrer Integrationskraft angesichts der bekannten Strukturprobleme wie dem demografischen Wandel (Abwanderung, Überalterung etc.), defizitärer Infrastrukturen (Mobilität, Internet etc.) und aktueller Herausforderungen wie der Corona-Pandemie. Bürgerschaftliches Engagement steht gerade in den ländlich geprägten Räumen Ostdeutschlands stets in der Gefahr der Überforderung. Verstärktes Engagement ist notwendig, um diese Herausforderungen anzugehen. Gleichzeitig erschweren gerade diese Herausforderung die alltägliche Zusammenarbeit. Da an innovativen Initiativen und Projekten auch in Ostdeutschland kein Mangel herrscht (Beispiele: Neulandgewinner, JUGENDSTIL*), kommt es darauf an, angemessene Formen der Kooperation und Förderung zu entwickeln und dafür politische Unterstützung zu finden. Die Schnittstellen zu Politik und Verwaltung sind auf allen Ebenen ausbaufähig. Auch die Einsicht, dass wesentliche landespolitische Entwicklungsaufgaben ohne die Ressourcen zivilgesellschaftlicher Zusammenschlüsse und Akteure nicht produktiv angegangen werden können und Transferzahlungen allein nicht ausreichen, verdient stärkere Verbreitung. Beteiligung, Engagement- und Demokratieförderung müssen stärker verknüpft werden, so mein Fazit der Tagung.
Stiftung Bürger für Bürger: Im Kolloquium haben Sie mit Dr. Cathleen Bochmann-Kirst von der TU Dresden und Miriam Freudenberger von der Allianz für Beteiligung e.V. über Erfahrungen mit Beteiligungsprozessen in Sachsen und Baden-Württemberg diskutiert. Was können wir aus diesen Praxiserfahrungen mit Blick auf eine erfolgreiche Verbindung von Engagement, Beteiligung und Demokratieförderung lernen?
Roland Roth: Zunächst ist festzuhalten, dass jede Form der Beteiligung besser ist als keine. Dennoch sind die Unterschiede zwischen der sächsischen Dialogpraxis und den Beteiligungsprozessen in Baden-Württemberg erheblich. Dies gilt vor allem für die Verknüpfung von Beteiligung und Engagement. Die sächsischen Krisen-Dialoge waren wesentlich top down angelegt und auf die Person des Ministerpräsidenten zugeschnitten, der um Legitimation, Akzeptanz und womöglich neue Ideen für seine Politik geworben hat. Unabhängig von den unmittelbaren Effekten ist nicht zu erwarten, dass solche punktuellen Kriseninterventionen in der Lage sind, strukturelle Beteiligungsdefizite abzubauen. Darauf zielt mit einigem Erfolg die „Politik des Gehörtwerdens“ in Baden-Württemberg, die seit zehn Jahren durch zahlreiche Beteiligungsformate, Verwaltungsrichtlinien, Landesgesetze und das kontinuierliche Wirken einer „Staatsrätin fürZivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung“ vorangebracht wird. Auch hier gaben aktuelle Krisen, vor allem die Konflikte um das Bahnprojekt „Stuttgart 21“, den Anstoß. Bürgerschaftliches Engagement und Bürgerbeteiligung wurden hier jedoch von Anfang an zusammengesehen. Die Gründung einer „Allianz für Beteiligung“, an der sich zivilgesellschaftliche Akteure, Wirtschaft und die Landesregierung beteiligen, ist dafür ein Beleg. Sie setzt in verschiedenen Formaten auf Unterstützung und Beratung von Initiativen aus der Bürgerschaft. Dabei greift sie mit Fonds und Dialogformaten – wie „Runde Tische“, Nachbarschaftsgespräche oder Bürgerräte – aktuelle Herausforderungen von der Fluchtzuwanderung bis Corona auf. Die Logik ist, durch kleines Geld, Beratung und Vernetzung Menschen und Zusammenschlüsse vor Ort dabei zu unterstützen, diese Herausforderungen durch Eigeninitiative und Engagement anzugehen. Also auch hier kommt der Impuls aus Landesregierung bzw. von der Staatsrätin, aber er zielt auf die Förderung einer dauerhaften lokalen Engagement- und Beteiligungskultur. Nach zehn Jahren lassen sich deutlich bessere Werte feststellen, wenn es um die Zufriedenheit der Bevölkerung des Landes mit ihren Beteiligungsmöglichkeiten geht. Nun gibt es viele Gründe, weshalb sich das Modell Baden-Württemberg, das auch in Westdeutschland hervorsticht, nicht einfach übertragen lässt. Aber es kann gelernt werden, wie eine produktive Verknüpfung von Engagement und Beteiligung aussehen kann.
Stiftung Bürger für Bürger: Es wurden auch die „dunklen“ Seiten der Zivilgesellschaft unter dem Fokus politischer Polarisierung mit Bezug zu den aktuellen Wahlergebnissen thematisiert. Wollen wir Bürgerbeteiligung nur für „Progressive“? Wie können wir das Engagement für Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt wirksam stärken?
Roland Roth: Ohne Zweifel gibt es Engagement, Vereine und Organisationen, die demokratiefeindlich gestimmt sind und demokratische Normen provokativ verletzen. Staatliche Förderprogramme sollten so angelegt sein, dass sie solche Akteure nicht auch noch fördern. Wir haben einige Anzeichen – von den Wahlergebnissen für die AfD bis zu rechter Gewalt – dafür, dass diese dunkle Seite der Zivilgesellschaft in Ostdeutschland deutlich größer ist als im Westen und sich dort „normalisieren“ konnte. Die Ausweitung des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ ist ein Zeichen dafür, dass diese Herausforderung gesehen wird. Auch auf Landesebene sind Strategien gegen Rechtsextremismus und andere Formen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit etabliert und in einigen Bundesländern informieren Monitore über aktuelle Entwicklungen. Lokale Akteure, die sich gegen menschenfeindliche Landnahmen wehren, dabei zu stärken, ist notwendig und ohne Alternative. Gleichwohl kommt es auch darauf an, Zivilgesellschaften insgesamt demokratisch fit zu machen. Dies fängt bei der demokratischen Verfassung von Initiativen, Vereinen und Verbänden an. Erleben Engagierte dort Respekt, Anerkennung, Mitwirkung, Interessenausgleich und eigene Wirkungsmöglichkeiten? Erleben sie die Produktivität von Empathie und zivilem Konfliktaustrag? Mehr noch kommt es auf die Bereitschaft an, sich im Sinne einer zivilgesellschaftlichen Selbstkorrektur mit negativen Entwicklungen wie etwa autoritären Anmaßungen, Diskriminierungen oder Verschwörungserzählungen zu engagieren. Nicht zuletzt sind Initiativen gefordert, die solche Negativentwicklungen in Politik und Wirtschaft als Watch Dogs anwaltlich anprangern. Sozialer Zusammenhalt ist kein Zustand von „Frieden und Eierkuchen“, sondern nur durch permanente demokratische Selbstkorrektur zu stärken.
Stiftung Bürger für Bürger: Sie haben in der Diskussion betont, dass wir Engagement und dessen Förderung nicht losgelöst von Demokratie denken dürfen. Wann sind Engagement und politische Beteiligung demokratiefördernd?
Roland Roth: Ernsthafte und gelungene Bürgerbeteiligung ist die Substanz, von der Demokratie lebt. Davon kann es gar nicht genug geben. Allerdings muss sie inklusiv und kompromissorientiert sein, gesellschaftliche Benachteiligungen ausgleichen, Minderheiten und Menschenrechte respektieren. Und sie muss – wie vermittelt auch immer – wirksam sein. Wie dies konkret gelingen kann, ist hinlänglich bekannt. An Formaten herrscht kein Mangel, auch wenn sie stets situations- und themenspezifisch anzupassen sind. Für Engagement gibt es eine stets neu zu bestimmende Grundnorm: Zivilität. Dazu gehört zuallererst der friedliche Konfliktaustrag, der Verzicht auf Gewalt und jede Form der Überrumpelung. Durch freiwilliges Engagement die Erfahrung zu machen, gemeinsam etwas mitgestalten zu können, gehört zur zentralen zivilgesellschaftlichen Mitgift, von der Demokratien leben.
Stiftung Bürger für Bürger: Auch über 30 Jahre nach der Deutschen Einheit gibt es noch Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland, wenn wir auf die Engagementlandschaft und deren Rahmenbedingungen blicken. Was braucht es aus Ihrer Sicht auf institutioneller Ebene insbesondere in Ostdeutschland, um Engagement so zu fördern, dass es Demokratie und Zusammenhalt dauerhaft stärkt?
Roland Roth: Wichtig ist es, diese Unterschiede anzuerkennen und sie als Gestaltungsaufgabe zu begreifen. In Sachen Bürgerbeteiligung und Engagement gibt es sicherlich in Ost und West deutlich Luft nach oben. Die politische Vernachlässigung der aktiven Bürgerschaft ist ein weit verbreiteter Fehler auf Regierungsebene. Mit dem Projekt „Engagiert für Demokratie“, das die Stiftung Bürger für Bürger gerade in einer Pilotphase durchführt, können wir die Aufmerksamkeit für einen kleinen, aber wichtigen Ausschnitt der demokratiepolitischen Bedeutung freiwilligen Engagements schärfen.
Vielen Dank für das Interview!