In Kooperation mit der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt führen wir in diesem Jahr die Studie „Engagementförderung in Ostdeutschland“ durch. Die Sozialwissenschaftlerin Dr. Birthe Tahmaz ist Teil des beauftragten Forschungsverbunds. Im Interview spricht sie über bisherige Erkenntnisse und ihr Forschungsvorhaben in der aktuellen Analysephase und beschreibt, wo Ost und West voneinander lernen können.
Stiftung Bürger für Bürger: Wie kommt Ihr Interesse am Thema Engagementförderung in Ostdeutschland zustande und was ist Ihr wissenschaftlicher Hintergrund?
Tahmaz: Das Interesse am Handeln von nichtstaatlichen Akteuren in gesellschaftlichen Gestaltungs- und Entwicklungsprozessen hat mich schon im Studium angetrieben. Zunächst konzentrierte ich mich auf Dynamiken in Kontexten gewaltsamer Konflikte, vor allem wenn dies auch Menschen mit Fluchtbiografien betraf. Durch meine Arbeit im Deutschen Bundestag rückte dann jedoch immer stärker das bürgerschaftliche Engagement in Deutschland in den Mittelpunkt. Zum einen, da es in Prozessen des Strukturwandels eine so wichtige aber oft unterschätzte Rolle spielt. Aber auch die Perspektive auf Konflikte als notwendige gesellschaftliche Aushandlungsprozesse – solange sie gewaltfrei verlaufen – verliert nicht an Aktualität.
Stiftung Bürger für Bürger: In der ersten Analysephase haben Sie die Länderportraits für Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt verfasst. Was waren Ihre wichtigsten Erkenntnisse?
Tahmaz: Die Fülle an Gestaltungs- und Verbesserungsideen vor Ort hat mich schon sehr beeindruckt. Auch wenn die Statistiken belegen, dass weiterhin vor allem junge Menschen in die Städte ziehen, so war schon zu beobachten, dass das Leben auf dem Land eine neue Wertschätzung erfährt. Das finde ich spannend! Wichtig ist es, dass diese Engagierten die richtige Unterstützung bekommen, um ihre Ideen auch umsetzen zu können.
Stiftung Bürger für Bürger: Und worin unterscheiden sich die drei Länder am deutlichsten?
Tahmaz: Die Herausarbeitung von Unterschieden war nicht unser Fokus. Was wir aber an Differenzen erkennen konnten, das sind die unterschiedlichen Ansätze, mit denen die Landesregierungen ihre Engagementförderung umsetzen. Während die einen eher dezentral ansetzen, agieren andere zentralisierter.
Stiftung Bürger für Bürger: Seit April hat die zweite Analysephase der Studie begonnen und Sie und weitere Wissenschaftler eines Forschungsverbunds arbeiten an einer Vertiefung. Worin liegt konkret Ihr Erkenntnisinteresse für die zweite Phase?
Tahmaz: Wir verfolgen dabei einen Dreischritt: Das ist zunächst die differenzierte Analyse der bisherigen Förderpolitiken und ihre Bewertung. Darauf aufbauend wollen wir herausarbeiten, wo relevante Förderbedarfe bestehen. Und schließlich wollen wir aufzeigen, wie diese von den Landesregierungen antizipiert werden können.
Stiftung Bürger für Bürger: Und wie gehen Sie methodisch vor?
Tahmaz: Wir arbeiten mit verschiedenen Ansätzen, je nach Erkenntnisziel. Die Förderpolitiken werten wir mittels einer Inhaltsanalyse aus, indem wir Regierungsdokumente und Drucksachen der Landesparlamente codieren und im Anschluss kategorisieren. In den gerade beschriebenen Schritten 2 und 3 führen wir Einzel- und Gruppeninterviews durch. Tools, wie Miro Board und Teams, helfen uns dabei diese standardisiert und unabhängig von dem Pandemieverlauf durchführen zu können.
Stiftung Bürger für Bürger: Die Zivilgesellschaft in Ost- und Westdeutschland unterscheidet sich historisch bedingt immer noch. Was sind die besonderen Herausforderungen für die Engagierten in Ostdeutschland?
Tahmaz: Dafür gibt es viele Faktoren und ich muss ehrlich sagen, dass hier auch noch viele Fragzeichen bestehen. Zwei Punkte spielen aber in jedem Falle eine Rolle. Zum einen ist es die Erwerbstätigkeit. Sie ist ein wichtiger Schlüsselfaktor, ob Menschen beginnen sich zu engagieren. Das hat etwas mit sozialer Anerkennung und Selbstbewusstsein zu tun und mit einem oft durch die Arbeit breiteren Netzwerk, worüber man leichter den Weg ins Engagement findet. Regionen, in denen die Erwerbstätigkeit geringer ist, korrelieren mit geringerem Engagement. Das ist keine Unterscheidung in ost- und westdeutsche Regionen, sondern in strukturstarke und schwache Regionen. Das heißt letztlich für uns: Welche Erfahrungen aus ostdeutschen strukturschwachen Regionen können jenen in Westdeutschland helfen und umgekehrt.
Mein zweiter Punkt: Engagement in westdeutschen Regionen wurde in der Vergangenheit vor allem auch von größeren mittelständischen Unternehmen und ihren Stiftungen unterstützt. Hier ist eine enge recht stabile Beziehung entstanden. In den ostdeutschen Bundesländern ist philanthropisches Engagement erst seit den 1990er Jahren wieder möglich und muss noch wachsen. Das heißt, die Palette an Fördermöglichkeiten ist hier deutlich kleiner.
Ein letzter Punkt, den ich hier aber noch betonen möchte: Das populäre Narrativ, bürgerschaftliches Engagement sei erst nach der Wiedervereinigung in Ostdeutschland entstanden, stößt auf massiven Widerstand. Auch in der DDR haben sich Menschen für ihre Gemeinschaft engagiert, im Sportverein in der Nachbarschaft und vielem mehr. Gerade die informelle spontane gegenseitige Hilfe ist, so finde ich, ein Bereich, wo westdeutsche Regionen von Erfahrungen in Ostdeutschland lernen können.
Stiftung Bürger für Bürger: Ziel der Studie ist es auch, Handlungsempfehlungen für die Politik abzuleiten. Was sind Ihrer Meinung nach wichtige Instrumente für eine wirksame Engagementförderung?
Tahmaz: Was ich in unserer Arbeit beobachten konnte, das ist ein breites Wissen, das aber oft über übliche homogene Austauschforen nicht hinweg geteilt wird: Sportler tauschen sich mit Sportlern aus, Kulturschaffende mit anderen aus diesem Engagementbereich. Dabei sind die Herausforderungen oft doch die gleichen oder zumindest sehr ähnlich. Es müsste also gelingen, hier den Austausch Sphären-überschreitend zu schaffen. Das wäre ein großer Gewinn und die öffentliche Engagementförderung der Länder kann das unterstützen, wenn sie stärker in Infrastrukturen als in Engagementbereichen denkt.
Stiftung Bürger für Bürger: Vielen Dank für das Interview!